Das Bermuda-Dreieck mittelalterlicher Straßen. Prag

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Karlsbrücke

Der Zug ist längst vom Prager Bahnhof abgefahren, hinter den Fensterscheiben ist das Wetter anders und regnerisch. Hüte unter Regenschirmen, Gummistiefel, die mutig in die Pfützen treten. Es sind nur dreihundert Kilometer bis Prag, aber alles ist anders, bis hin zu den Regenschirmen und dem Regen.

Bei Spaziergängen unter den nassen Wolken auf den Prager Hügeln ist ein Regenschirm meist eine unnötige Last. Der Prager Regen an einem Sommertag ist fein und warm wie Mehl. Wenn man von der Krone der Prager Burg zum schweren Armband der Karlsbrücke geht oder vom Geruch von Knoblauchsuppe und Sauerkraut am Fuße des Wenzelsplatzes zu dem nach Kreuzkümmel und gebratenen Kartoffeln riechenden Restaurant im Umfeld des Altstädter Rings spaziert, dann bröckeln die Tropfen wie gemahlene Perlen, die gerade noch die Wimpern und das Haar berühren und sanft bestäuben.

Im kühlen, endlos langen Herbst, der sich von November bis März erstreckt, schüttelt der Prager Himmel den kalten Regenstaub aus seinem bodenlosen Sack. Unter einem Regenschirm gibt es kein Entkommen vor der allgegenwärtigen Feuchtigkeit. Wie ein unersättlicher Raubfisch verschlingt er den Rest des Herbstes — wenn das Laub nicht unter den Füßen raschelt, sondern in aufgeweichten Flocken an den Sohlen klebt, den Winter — wenn einzelne Schneeflocken im eisigen Wind zittern, und den ersten Frühlingsmonat — wenn der Himmel noch von einem dichten grauen Vorhang vor der lang ersehnten Sonne bedeckt ist. Das schwerelose, gelöste Wasser in der Luft reizt den Schirm, neckt die Regenjacke, fließt in die Ärmel und den Kragen, sickert durch die Fasern des wasserdichten Stoffes und entzieht jedem Molekül der Haut Wärme. Der Körper schrumpft zusammen und die unterkühlten Füße werden von tschechischen Köchen in das Restaurant im beheizten Keller getragen.

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Čertovka

Das Gulasch qualmt und die Weizenknödel schwimmen in einer heißen Pfütze aus nach böhmischer Wiese duftender Soße. Es gibt robuste Tische und Stühle mit Beinen so dick wie Baumstämme – zarte würden der großen gebackenen Schweineschwarte mit Meerrettich und Senf, den schwitzenden schwere Bierkrügen nicht standhalten. An der Decke hängt ein verrußtes höizernes Wagenrad, auf den Regalen stehen Tonkrüge und Schalen, Kupfenschüsseln und Pfannen. Das Licht ist schummrig, wie vor Jahrhunderten, als hier noch Kerzen brannten. Die Schatten hinter den Stuhllehnen werden von der Dämmerung verdeckt. Das Klirren der Krüge und die Stimmen übertönen das Knarren der Dielen unter unsichtbaren Schuhen und das Rascheln von unsichtbaren schweren Gewändern. Hier wird die Leere des Tellers nicht mit Rucola in einem abstrakten Rahmen aus Sojasauce kaschiert oder das Dessert mit einem Minzblattkranz serviert. Der Teller ist bis zum Rand mit deftigen Speisen gefüllt. Rucola wärmt den Körper nicht und ein Minzblatt lässt Sie nicht besser schlafen. Nur eine deftige Mahlzeit schützt vor Feuchtigkeit, betäubt die Sinne und verhindert, dass die Seufzer von den Dachböden des Hradschin und die Klagen aus den Kellern von Malá Strana einschlafen.

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Goldenes Gässchen

Die Passanten sind still und schüchtern wie der Regen. Geduldig und ruhig stehen sie in Warteschlangen. Intolerant gegenüber Neuankömmlingen, aber auch schweigsam. In den Barrandov-Filmstudios werden Märchen gedreht, in schmalen Gassen Osterlämmer und Weihnachtszimtsterne gebacken. Ihr lebensmittelpunkt erstreckt sich von den Abfahrten des Riesengebirges bis zu den Eistiegen der Adersbach-Felsen, ihre Aufmerksamkeit dehnt sich von Schönheitswettbewerben bis zu Kochshows, von Weihnachtsmärkten bis zu den bunten Sommerfestivals mit Liedern an warmen Sternenabenden um Lagerfeuer, wo Männer — bärtig und langhaarig — mit ihren reinen, faszinierenden Stimmen eine endlos lange Melodie anstimmen.

Den einheimischen Passanten verraten nicht nur seine besuchermüden Augen, nicht nur sein eiliger Gang und seine Schlabberjacke als Schutz vor dem Regen und neugierigen Blicken. Seine Sprache ist so monoton wie das Geräusch eines Herbstregens, so leise wie das Rinnen von Wasser, das an den glatten und nassen Seiten eines Regenschirms herunterrinnt. Gedanken oder auch nur Worte auf Tschechisch sind wie eine eintönige, einlullende Melodie. Eine Note singt Silben, eine Saite spielt Wörter und ganze Sätze. Der Wind nimmt die Musik der langen Vokale auf, trägt sie durch die Straßen und hinauf zu den Ziegeldächern — bis der Klang am Geruch von Kümmel zerbricht, bis er in der Dunkelheit des Dachbodens verschwindet.

Kurze Konsonanten dämpfen die vom Winde verwehte Musik und ballen sich in dichten Clustern zusammen, summen wie Käfer, rascheln wie Mäuse, rauscheln wie nasse Blätter. Mit der Zeit kommt die Zunge des Besuchers mit dem Summen, Rascheln und Rauschen zurecht, aber sein Kehlkopf kann den langen, wohlklingenden Ton der tschechischen Vokale nicht in der gleichen Tonlage wie der des Passanten erzeugen. Er mag viele Prager Regenfälle durchlitten haben, er mag mit kalten Füßen in den geheizten Keller steigen, er mag viele andere Regenfälle und Herbste vergessen, aber dennoch werden die Vokale, die aus einem auf andere Klänge gestimmten Rachen aufsteigen, vor der Geburt der Erinnerung, fallen wie Vögel mit gestutzten Flügeln. Es besteht keine Hoffnung, dass sie die Ziegeldächer berühren, genauso wenig wie es Hoffnung gibt, dass der Ankommende in Prag schnell zu eimen Einheimischen werden kann.

Die Müdigkeit der Neuankömmlinge wird seit Jahrhunderten wie eine Erbkrankheit an die Vorübergehenden weitergegeben und nimmt die Züge des Verderbens an. Einer nach dem anderen breiteten fremde Könige ihre goldbestickten Gewänder auf dem böhmischen Thron aus. Der teure Stoff polierte den Thron und schärfte die Sinne der Passanten — die Ohren hörten immer deutlicher die drohende Rede der anderen, die Augen nahmen immer schmerzhafter das Glitzern des Goldes wahr. Die Könige sind verschwunden, aber das Gras flüstert noch immer die traurige Geschichte eines tschechischen Soldaten, der in einer sinnlosen Schlacht für eine ihm fremde Idee, für die Verherrlichung einer fremden Sprache starb. Der tschechische Wind, in seiner immerwährenden Erinnerung an Schmähungen, weht und webt die lange Erzählung des unterdrückten Landes. Der tschechische Regen sät die Schuld der fremden Sprache in dem, was ist und rechtfertigt sich für das, was nicht ist, aber hätte sein können.

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Alte Stadt

Auf der Hauptfußgängerzone der Stadt — vom Wenzelsplatz bis zur Prager Burg — lächelt Prag den Fotoapparaten, den japanischen Regenschirmen, den Turnschuhen und den Pelzmänteln mit einem gemalten Lächeln zu. Von der Prager Burg bis zum Altstädter Ring beleuchten Kristalllüster die Schaufenster mit vielfältigen Porträts der Stadt und Granat-Edelsteinen in Silber. Auf dem Wenzelsplatz riecht es nach gebratenen Würsten, kochender Butter und darin schwimmenden orangefarbenen Käsekringeln.

Die Traurigkeit unter ihren aufgeklebten Wimpern verbergend, singt die Stadt täglich dem mehrsprachigen Publikum Arien aus „Don Giovanni“. Geduldig reicht sie ihre müde Hand für bewundernde Küsse und wartet darauf, dass die Uhr auf dem Turm des Altstädter Rathauses die Nacht herunterzählt und das Publikum sich auflöst.

Wenn die Laternenlichter das Pflaster beleuchten, aber den Frieden der Dunkelheit nicht stören, wenn der Nachtnebel die Ränder des trüben Monds aufraut und sein weißes, mit dünnen Zitronenstreifen versehenes, lebloses Licht von den Dachziegeln tropft und sich mit dem Atem der verlassenen Straßen vermischt, wenn die Köchin einschläft und der Besucher von Gulasch und Granatsteinen in Silber träumt, wischt Prag den Lippenstift ab und zieht das Faschingkleid aus. Mit dem dunklen Wasser der Moldau wäscht sie die vom Blitzlicht der Kamera ermüdeten Augen, ihre wunde Hand wird durch die Berührung der kühlen Lippen von Schatten, die von muffige Dachböden und feuchten Keller aufsteigen, gelindert. Bis zum Morgen weinen die Schatten und erzählen ihre traurigen Geschichten, und Prag seufzt und vergießt Tränen in sein blasses Spiegelbild, das von den Wellen der Moldau verwischt wird.

Wenn Sie am beheizten Restaurant vorbeigehen und sich nicht von den einschläfernden Gerüchen deftiger Speisen mitreißen lassen, wenn Sie das Abendessen verweigern und sich in die Ströme gepflasterter, düsterer Straßen begeben, wird Prag Sie mit seiner kalten Sehnsucht einhüllen und mit seiner grüblerischen Melancholie anstecken. Der Duft des Parfums aus stehendem Wasser und Traurigkeit webt ein klebriges Spinnennetz um den Geist und führt Sie zur Čertovka. Dort wird der mondbeschienene Spiegel des Wassers erbeben und die Meerjungfrau wird auftauchen. Mit schimmernden Schuppen und porzellanblasser Haut wird sie Ihnen zuwinken und versprechen, die Schätze zu enthüllen, die auf dem Grund des Flusses unter einem Bett aus Schlick schlummern.

Der Wassermann berührt Sie mit seiner nassen Hand an der Schulter und lädt Sie zu einem Getränk ein. In der hintersten und dunkelsten Ecke der engen Kneipe, seinen grünen Bart aus winzigen Algen hinter seinem Becher versteckend, beklagt er die heutige Zeit und erzählt Ihnen, wie es früher war. Ein schwarzer Kater taucht aus dem Tabakrauch und Bierschaum auf und weist den Weg zu Fausts Haus. Mit seinem vom Mond versilberten Schwanz zeichnet er die Formel für den Stein der Weisen in die Luft und verschwindet dann in der Dunkelheit der plötzlich erlöschenden Laterne. Der unsichtbare Rabe von Franz Kafka wird lautlos vorbeifliegen und die Formel mit seinem Flügel auslöschen. Ein feuriger Wagen rast vorbei, zertrümmert den letzten Buchstaben der Formel und rast auf die Karlsbrücke zu, Sie auf seinem feurigen, kometenhaften Schweif mitreißend.

Der Wind wirbelt auf der verlassenen Brücke, reißt Ihnen den Hut ab und wirft ihn in die Moldau. Der Wassermann fischt ihn mit einem Netz heraus, setzt ihn auf und macht sich auf den Weg, um ein neues Bier zu bekommen. Der Steinerne Johannes Nepomuk, ängstlich den schwarzen Kater erblickend, der den Mond mit seinem Schwanz vernebelt, zwinkert dem Besucher zu und flüstert ihm seinen Ratschlag, sich in das beheizte Restaurant zu beeilen, um nicht im Bermudadreieck der aquarellfarbenen Straßen zu verschwinden und zu einem Parfümtropfen von Prag zu werden. Schwere Füße, die bereits knietief im Prager Sumpf stecken, werden müde vorwärts taumeln um den Ratschlag zu folgen. Das Klappern von Hufen und das Rasseln von Ritterrüstungen ist in dem beheizten Restaurant hinter ihnen zu hören. Eine von Angst gefesselte Hand stößt die schwere Tür auf, eine Wolke von Wärme und der Geruch von gutem Essen wird herauffegen und ihre Füße befreien. Der schwarze Kater fliegt durch den Mond, miaut laut, aber das Knarren der ungeölten Scharniere der sich schließenden Tür übertönt ihn. Das Rasseln der Ritterrüstungen wird vom Klirren des Geschirrs überwuchert, das Klappern der Hufe vermischt sich mit dem Summen der Stimmen und dem dumpfen Lachen.

Gulasch und Knödel sorgen für einen erholsamen Schlaf. Morgens wird man von einem Sonnenstrahl geweckt. Er fällt von einem klaren, blauen Himmel, bricht sich in den Blüten des Aprikosenbaums und erhellt den Raum in Rosa, aufgesogen von vielen grauen Tagen. Auf dem Dachboden gähnt ein vergessenes Porträt von Franz Joseph, eingewickelt in eine Girlande aus jahrhundertealten Spinnweben. Passanten und Besucher werden unter dem Fenster vorbeilaufen. Sie vermehren sich in böhmischen Gläsern, verzerren sich in Vasen und klimpern in kristallenen Anhängern. Es wird riechen nach Sauerkraut, Kümmel und Knoblauch. Der unsichtbare Rabe von Franz Kafka wird über den Ring der tristen, neu gestrichenen, wie Kinderwürfel wirkenden Plattenbauten fliegen, über den wuchernden Giftpilz der Einkaufszentren, über die nach Gummischuhen und Fächer riechenden vietnamesischen Läden, über die Gemeinde der Kirche Mariä Himmelfahrt, die aus den pechschwarzen Felsenstädten zurückkehrt. Er wird von den Sonnenstrahlen und der orangen Farbe der Ziegeldächer verbrannt und versteckt sich auf dem Dachboden unter einer Girlande aus jahrhundertealten Spinnweben. Die Moldau bringt aus den böhmischen Auen die zeitlos wie der Wind unerschwinglich schöne Stimme von Karel Gott und drei Haselnüsse für das neue Aschenbrödel. Licht trocknet feuchte Keller und muffige Dachböden, Schatten fallen hinter zerbrochenen Fenstern in den Schlaf. Prag wird ihre Puderquaste aus Staub zuschlagen und die Parfümflasche vergessen. Sie wird die Tränen wegwischen, und unter dem aufgemalten Lächeln wird das echte zum Vorschein kommen.

Der Zug hat einen neuen Bahnhof erreicht. In meiner Hand befindet sich unter anderem ein Aquarell von Prag, in meinem Koffer — die noch trocknenden Regentropfen, der Geruch von Sauerkraut, Aprikosenblüten, Schneeflocken im brühenden Wein, schüchterne Stimmen, knarrende Dielen; auf meiner Schulter — das Gefühl der Berührung einer nassen Hand.