Straßburg: „Capitale de Noël“ (Weihnachtshauptstadt)

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Die europäische Tradition, Weihnachten woanders zu verbringen, gleicht der Illusion eines massenhaften, fast panischen Fluchtversuchs vor der Eintönigkeit der vergangenen Monate – aus dem Kreislauf alltäglicher Mühen, unerfüllter Hoffnungen, schwankender Ungewissheiten und dem traurigen Bewusstsein, dass die Erwartung einer besseren Zukunft oft trügerisch ist. Es ist vergleichbar mit einer ebenso illusorischen Beschleunigung der Zeit, wenn Menschen durch ihre Reisen das Ende des alten Jahres und den Beginn des neuen zu erzwingen versuchen. So wiederholt sich der Zyklus Jahr für Jahr: Abschied vom verhassten Alten, Begrüßung des Neuen, das nach 365 Tagen wiederum alt und verbraucht ist und ersetzt werden muss. Eine scheinbare Sinnlosigkeit, die jedoch wie eine instinktive Kompassnadel wirkt – programmiert von einer höheren Macht – und die Hoffnung in Richtung der ersehnten Ufer eines Archipels des Besseren, vielleicht sogar des Glücklichen, steuert.

Straßburg habe nicht ich gewählt – Straßburg hat mich gewählt, so scheint es zumindest. Natürlich ist das nur sinnbildlich gemeint. Es wäre naiv und töricht zu glauben, dass eine Frau lediglich eine passive Spielfigur in den Händen einer Stadt sein könnte, sei sie auch noch so schön. Gibt es Unterschiede zwischen Städten mit männlichen und weiblichen Namen? Ich denke, ja. Hier kommt sicherlich auch eine Prise Mystik ins Spiel, gepaart mit der geheimnisvollen Problematik der Geschlechter. Wenn man eine Stadt nicht nur als Konglomerat aus Bauten und Verkehrswegen sieht, sondern als einen komplexen lebendigen Organismus, dann schmeichelt mir ihre Wahl. Im Akt der Hingabe der Frau an die Stärke des Männlichen liegt etwas Natürliches, Richtiges und für beide Seiten Notwendiges. Ich nährte mich von Straßburg, und ich hoffe, dass auch mein Staunen nicht unbemerkt geblieben ist.

Zwei Flugstunden trennten mich von Wien – und anstelle des Wiener Weihnachtstrubel tauchte ich in die Straßburger Festlichkeit ein. Eine riesige Tanne, Märkte, heißer Wein auf der Straße, die Kälte, die bis auf die Knochen geht – die gleichen Merkmale eines europäischen Weihnachtsfests, dieselbe bunte Betriebsamkeit, die das düstere Wetter überstrahlt, die frühen Abendstunden verlängert, den Mangel an Sonnenlicht ausgleicht und Hormone des Glücks freisetzt.

Straßburg, wie viele andere Städte der europäischen Tiefebene, erlebt keinen echten Winter – keine glitzernden Schneeflocken unter der Sonne, kein leuchtend blauer Himmel, keine roten Wangen, kein Frost, der nicht lähmt, sondern stärkt. Hier, im feuchten Europa, spürt man besonders deutlich die Trauer der Göttin Demeter, die nach ihrer Tochter Persephone weint. Zusammen mit der Göttin verkümmert auch die Natur, wird träge und melancholisch. Die kahlen, von Feuchtigkeit bedeckten Bäume verschwinden im grauen Nebelschleier, der den Himmel verhüllt, oder sie beugen sich im Wind – vielleicht in Richtung Sonne und Wärme. Auch die Menschen erliegen der Schwermut, sie sehnen sich, wie die Bäume, nach Licht und Wärme, die Freude und Leben symbolisieren. Die Heimat verlassen sie in der Regel nur aus Not. Wie Bäume, die fest mit der Erde verwurzelt sind, ertragen sie die Natur und passen sich ihr an.

Um den bleichen Gesichtern der Europäer Farbe zu verleihen und den grauen, kontrastarmen Wintertag aufzuhellen, entstand die lange Weihnachtszeit – als eine wohl notwendige Schutzreaktion, als Versuch, die Zeit anzutreiben, eine bunte Maske, die die Tristesse des scheidenden Jahres verdeckt. Europa ohne seine über einen Monat andauernden Weihnachtsmärkte? Unvorstellbar. Sie scheinen immer dagewesen zu sein und werden wohl immer bleiben.

Die Weihnachtsmärkte, wie wir sie heute kennen, entstanden im frühen Mittelalter in den deutschsprachigen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches. Sie wurden ursprünglich nach dem heiligen Nikolaus benannt und hießen im elsässischen Dialekt „Klausenmärik“. Auf diesen Märkten kauften Eltern Geschenke für ihre Kinder, die sie heimlich in der Nacht zum 6. Dezember – dem Nikolaustag – überreichten. Die Kinder glaubten fest daran, dass der gutherzige heilige Nikolaus, bekannt für seine Hilfe für arme Familien, ihnen die Gaben brachte.

Kinder können und wollen an Wunder glauben, im Gegensatz zu Erwachsenen, die es zwar auch wollen, aber nicht mehr können. Kinder bis zu sieben Jahren gelten als unschuldige Engel, danach beginnt die Verwandlung vom schuldlosen Engel zum sündigen Menschen. Manche durchlaufen diese Metamorphose schneller, bei anderen dauert sie länger – wie etwa bei Hans Christian Andersen.

Der Sohn einer österreichischen Bekannten von mir ist fast zwölf Jahre alt. Er glaubt noch immer an den heiligen Nikolaus, beginnt jedoch langsam an dessen Existenz zu zweifeln. Seine Verwandlung zum Erwachsenen hat begonnen – schade, aber es lässt sich nicht ändern. Die Tochter einer anderen Bekannten, ein dreizehnjähriges Mädchen, glaubt nicht mehr an den Weihnachtsmann oder den Väterchen Frost – die atheistischen Varianten des heiligen Nikolaus – aber sie glaubt an Harry Potter. Sie hat ihre Lieblingsbücher ohne Übertreibung etwa vierzig Mal gelesen und kann viele Passagen auswendig zitieren.

Die erstaunliche Beliebtheit von Rowlings Werk unter Jugendlichen erklärt sich wohl dadurch, dass die Autorin einen Ausgleich zwischen der kindlichen, fast engelhaften Seele, die sich gegen das Erwachsenwerden sträubt, und der unausweichlichen Reife, die bevorsteht, gefunden hat. Das Buch ist voller Wunder, doch gleichzeitig handeln die Charaktere wie Erwachsene.

Es bleibt spannend zu sehen, ob die heutigen Teenager, wenn sie in zwanzig Jahren Krawatten tragen oder High Heels anziehen, mit derselben Begeisterung an „Harry Potter“ zurückdenken werden, wie ihre Großeltern einst „Tom Sawyer“, „Michel aus Lönneberga“, „Gullivers Reisen“ oder „Die drei Musketiere“ geliebt haben.

Straßburg trägt den Titel „Capitale de Noël“ nicht ohne Grund. Hier wurde 1570 der erste Weihnachtsmarkt „Christkindelsmärik“ zu Ehren des Christkindes veranstaltet. Er ersetzte den traditionellen Markt „Klausenmärik“, der in der Zeit der Reformation umbenannt wurde. Der neue Name symbolisierte die Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten, denn letztere lehnten die Verehrung von Heiligen ab, einschließlich des heiligen Nikolaus. Doch trotz religiöser Konflikte blieb der heilige Nikolaus in den Herzen der Menschen – sei es in der Gestalt des Weihnachtsmanns oder des Väterchens Frost mit einem Sack voller Geschenke.

Seitdem wurde die Tradition der Geschenke auf den 25. Dezember verlegt, aber der Nikolaustag wird weiterhin gefeiert. Auch heute freuen sich Kinder wie einst ihre Vorfahren am 6. Dezember über kleine Geschenke – Lebkuchen oder Spielzeug. Dank der Gegenreformation kehrte der heilige Nikolaus in die Feierlichkeiten zurück, doch der Name des Marktes blieb unverändert. So erhalten Kinder in den ehemaligen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches im Dezember zweimal Geschenke.

Vor Weihnachten verwandelt sich Straßburg in eine prachtvolle Bühne: Das Stadtzentrum füllt sich mit festlicher Dekoration, und Bewohner sowie Gäste spielen die Rollen von Feiertagsteilnehmern. Menschenmassen bewegen sich von einem Weihnachtsmarkt zum anderen, besuchen die Holzstände mit Lebkuchen, Spielzeug und Weihnachtsdekorationen, wärmen sich mit Glühwein und genießen Crêpes. Hotels erhöhen ihre Preise, aber der Strom der Touristen reißt nicht ab – alle wollen in diese märchenhafte Atmosphäre eintauchen.

Auch ich war unter den Besuchern und erhielt einen Prospekt mit dem stolzen Titel: „Straßburg – die Hauptstadt von Weihnachten“. Nachdem ich die Brücke überquert hatte, ging ich den Lichtern und Türmen des historischen Zentrums entgegen, das von der UNESCO und den Gewässern der Ill geschützt wird. Das Haus, in dem ich untergebracht war, war mehr als ein Jahrhundert älter als ich. Es empfing mich mit Feuchtigkeit und Stille, die nur von einem Fahrrad mit nassen Reifen im Flur durchbrochen wurde.

Die hölzerne Treppe knarrte und ächzte, als würde sie sich gegen meine Anwesenheit wehren und mich drängen, schnell nach oben zu kommen. Dort, ganz oben, erwartete mich eine helle, gemütliche Wohnung mit breiten Fensterbänken, von denen aus ich auf die Stadt blicken konnte. Hier konnte ich stundenlang das Leben auf den Straßen beobachten und in Gedanken versinken.

In der obersten Etage zu wohnen ist ein besonderes Gefühl. Wenn über einem nur das Dach und darüber die unendliche Weite des Himmels, die Sterne oder Wolken sind, erfüllt das die Seele mit einem unvergleichlichen Freiheitsgefühl. In meiner Kindheit lebte ich unter einem Dachboden, später unter einem Dach. Diese Momente sind wie kleine Schätze, die ich sorgsam in meinem Herzen bewahre, in meiner persönlichen, unsichtbaren Truhe der Erinnerungen.

Ich hatte drei Tage – wie drei magische Wünsche, die man für etwas Wichtiges ausgeben sollte. Jeden Morgen lag ich lange unter der warmen Decke, zog den Moment des Abschieds von ihrer Geborgenheit hinaus. Durch das schmale, hohe Fenster – wie ein altmodisches Kleid – schaute ich in den Himmel, auf die ziegelgedeckten Dächer, die scheinbar am Himmel befestigt waren, und lauschte dem faszinierenden Kreisen des Windes. Schließlich stand ich auf, trat ans Fenster und blickte hinauf in den Himmel – als hoffte ich, die Schneekönigin fliegen zu sehen. Doch sie kam nicht. Dann betrachtete ich die Ziegeldächer – vielleicht würde der heilige Nikolaus mit seinem Geschenkesack über sie schreiten. Aber auch er zeigte sich nicht. Schließlich wanderten meine Augen nach unten – zur Pflasterstraße, zu den winzigen Menschen, die hastig oder gemächlich dahinschritten, und zu den Straßenbahnschienen, auf denen futuristische Bahnen wie Wesen von einem anderen Planeten durch diese alte Stadt glitten.

Zum Frühstück gab es immer französischen Käse – auch wenn Straßburg im Elsass nicht ganz Frankreich ist. Die Stadt erinnerte mehr an ein deutsches Gericht mit elsässischer Füllung und einer Prise jüdischer Würze. Ein frischer Croissant, doppelt so aromatisch in Begleitung des französischen Käses, heißem Tee und Wind. Geschmack und Ruhe… Die scheinbar endlose Gelassenheit der Einsamkeit wurde plötzlich unterbrochen – durch das Geräusch einer Straßenbahn, die unermüdlich nach unten rief, in die feiernde Menge.

Ich schlenderte durch die fröhliche Hektik der Menschen, vorbei an den Marktständen, die mit dem würzigen Duft von Glühwein lockten. Dabei blieb mein Blick unwillkürlich an Schaufenstern hängen, die mit Käse, Gebäck, Süßigkeiten und anderen Köstlichkeiten verführerisch spielten. Kroatische Verkäufer priesen ihre Waren hinter kunstvollen „barocken“ Wurstgeflechten an. Straßburg lädt seit einiger Zeit zu Weihnachten ein Gastland oder eine Gastregion ein – in diesem Jahr war Kroatien zu Besuch, vor allem vertreten durch Würste und Schinken.

Ein Café mit einer Glaswand, die auf eine belebte Straße blickte, gefiel mir besonders. Mittags ging ich dorthin und bestellte eine große, üppige Tarte, reichlich belegt mit Champignons und bis zum Rand mit Käse übergossen – die ich sofort als „königliche“ Tarte würdigte – und dazu Glühwein mit Beeren. Die Restaurants waren überfüllt und keineswegs günstig. Der bescheidene Kleidungsstil der Straßburger ließ mich zweifeln, dass sie sich solche Ausflüge, selbst an Feiertagen oder Wochenenden, leisten konnten, geschweige denn in Orte der gehobenen oder nahegehobenen französischen Küche.

Das berühmte, pompöse, wie ein aufwendig geschnitzter Schrank wirkende Restaurant „Kammerzell“ – ein Meisterwerk der Fachwerkarchitektur und kulinarisches Wahrzeichen der Stadt – war jedes Mal überfüllt. Der Appetit, dort zu essen, verging mir gänzlich, als ich sah, wie die Gäste in einem von den heißen Atemzügen der Menschen und Gerichte dunstigen Raum dicht gedrängt saßen, Schulter an Schulter, wie Samen in einer überreifen Gurke. Die Schönheit des Interieurs schien sich darüber zu empören und leise zu beklagen. Doch nicht nur im „Kammerzell“, sondern überall saßen die Menschen aufgrund des Weihnachtsansturms Schulter an Schulter.

Ich wartete auf einen freien Platz im Foyer des „Kammerzell“ – auf einen Platz, nicht einmal einen Tisch – und überlegte, ob ich bleiben oder gehen sollte, als plötzlich eine laute Gruppe neben mir auftauchte: ein junges Paar in Begleitung eines Reiseleiters, alle russischsprachig.

Das Paar zog sofort die Blicke auf sich – beide waren schön, beide hatten lange, glänzende, blonde Haare: der Mann bis zu den Schultern, die Frau fast bis zur Taille. Beide trugen Pelzmäntel, teuer und stilvoll. Der Anblick der beiden rief eine Erinnerung in mir wach – an ein nettes österreichisches Mädchen, meine frühere Nachbarin. Ich war nicht eng mit ihr befreundet, wusste aber, dass sie Jura studierte und Russisch lernte. Von außen betrachtet wirkte sie manchmal ein wenig sonderbar – so wie es oft Menschen tun, die schlicht nachdenklicher, freundlicher, offener sind, die sagen, was sie denken, und weder der Mode noch zwischenmenschlichen Konventionen viel Bedeutung beimessen.

Während unserer Gespräche erzählte sie mir einmal von ihrem Traum, Russland und insbesondere Moskau zu besuchen, um etwas Bestimmtes mit eigenen Augen zu sehen. Nein, keine tanzenden Bären und keine Blinis mit Kaviar – sondern sehr reiche und sehr schöne Menschen. Ein Jahr nach diesem Gespräch traf ich sie in der Mittelmeerperle Nizza wieder, wo die Konzentration wohlhabender, gut aussehender Russen noch höher war. Vielleicht war Nizza für sie eine Alternative zu Moskau und stillte ihre Neugier.

Der Reiseleiter, etwa doppelt so alt wie das Paar, schaute sich lebhaft um, redete hastig, prahlte mit seinen Kenntnissen der französischen Sprache und Kultur, zog Grimassen und hetzte zwischen dem Paar und dem Kellner hin und her. Er bemühte sich mit übertriebener Servilität, den beiden zu gefallen – vermutlich war er neu in seinem Job und brauchte dringend Geld. Seine abgetragene Jacke, die in französischen Verhältnissen völlig unauffällig gewesen wäre, wirkte angesichts der edlen Kleidung des Paares armselig. Außerdem war er klein und verschwitzt, während die beiden groß, schlank und vor Vitalität und Wohlstand glänzend wirkten – nicht vom Schweiß, sondern von Zufriedenheit und Lebensfreude.

Ich trat ins Freie. Nicht nur die fehlenden Plätze und die fast erdrückende Enge trieben mich aus dem „Kammerzell“, sondern auch das Bedürfnis, das Gefühl von Mitleid, gemischt mit Verlegenheit, so schnell wie möglich loszuwerden – ein Gefühl, das durch das soziale und physische Ungleichgewicht zwischen diesen Menschen ausgelöst wurde. Draußen, eingetaucht in den festlichen Trubel der Straße, gelang es mir, dieses unangenehme Empfinden zu überwinden. Ich überzeugte mich, dass jedem Menschen von oben sein Platz auf dieser Welt zugewiesen wird.

Und doch: Nicht in einem guten französischen Restaurant zu speisen, wäre für mich ein Versäumnis gewesen – als hätte ich das Meer besucht, ohne darin zu schwimmen. Die französische Küche ist eine Meisterschaft, die an Kunst grenzt: ein Staunen über Ästhetik, ein Genuss des Geschmacks, eine Sehenswürdigkeit auf dem Teller – die Verkörperung dessen, was die Welt als „französisch“ kennt. In meiner Erinnerung, unter den vielen Kammern, die eine endlose Filmrolle von Landschaften, Porträts, Worten, Stimmen, Musik, Bewegungen, Handlungen, Freuden, Kummer, Beleidigungen, Freundschaft und Zärtlichkeit bewahren, gibt es auch eine kleine Ecke für die Erinnerungen des Magens. Wenn ich an den Geschmack jenes Abendessens denke, bestehend aus drei exquisiten, perfekt aufeinander abgestimmten Gerichten, spüre ich ein angenehmes, warmes Gefühl, das an Intensität den Emotionen in nichts nachsteht, die bei Gedanken an „La Petite France“ aufkommen – jenes bezaubernde, fast spielzeughafte Viertel von Straßburg mit seinen hohen, nach unten geschwungenen Ziegeldächern, die einst als Trockenplätze für Leder dienten. Oder an die liebenswerten und rührenden Zeichnungen von Jean-Jacques Waltz, die im Dienste des Geschäftslebens der Straßenhändler für Souvenirs stehen. Oder an das Elsass-Museum – eine lokale Schatzkammer des traditionellen Handwerks und Alltagslebens, untergebracht in Fachwerkhäusern.

Solche – begeisterten und andere Gefühle, sammelten sich in einer solchen Fülle an, dass sie für ein halbes Jahr reichen könnten, um sich davon zu nähren – und später, in Zeiten emotionaler Avitaminose, als konservierte Vitamine zu verwenden. Menschen sind wie Schwämme: Sie nehmen Tropfen für Tropfen oder gierig den Nektar der Emotionen in sich auf – sowohl der körperlichen als auch der höheren Chakren. Die ersteren treiben das Laufband des Lebens an, erfreuen und geben Kraft. Die letzteren lassen einen zurückblicken und ziehen dünne Häutchen oder ganze Schichten von Zorn, Bosheit und Neid von der dicken menschlichen Haut ab. Sie offenbaren Güte, Mitgefühl, Vergebung…

Doch viele rühren den Kelch des Lebens nie an, verlassen die Welt mit Durst, seltener – vor Durst. Wie oft begegnet man im Leben einem verzerrten, hässlichen Gesicht, das keinerlei Anzeichen eines guten Gedankens zeigt – und doch hat sich jemand über dessen Geburt gefreut! „Es gab doch jemanden, der sich über seine Geburt gefreut hat“, pflegte mein Zeichenlehrer immer wieder lachend zu sagen. Sein Gesicht, das eines älteren Mannes, war schön. Es ist nicht schwer, mit Schönheit geboren zu werden – doch sie bis ins Alter zu bewahren, ist eine Herausforderung. Und ob sie erworben werden kann, ist eine schwierige, vielleicht sogar unbeantwortbare Frage.

Auf dem Place Kléber fand jeden Abend eine Multimedia-Show statt. Der Raum des Platzes, umgeben von Gebäuden und der Dezemberdunkelheit, schwach beleuchtet von den bunten Lichtern des Haupt-Weihnachtsbaums, den Straßenlaternen und den Fenstern, die nie schliefen, wurde in ein Theater verwandelt. Auf dem Gebäude Aubette, das vorübergehend zu einer gigantischen Leinwand wurde, wurde das fesselnde Spektakel – die Multimedia-Show – in voller Länge über den Platz hinweg projiziert. Um die Handlung zu verstehen – mit den marschierenden Spielzeugsoldaten, der Kanone, die schießt, und dem lustigen Lebkuchenmännchen – musste man von Anfang bis Ende schauen. Doch das gelang nicht, und das war auch nicht entscheidend. Es war nicht die Handlung oder die Moral, die zählten, sondern die Emotion, die jeder Augenblick hervorrief – darin lag möglicherweise die Absicht des Autors. Die Verbindung unter der dunklen Kuppel des Himmels aus bewegten, talentierten Bildern und der in der frostigen Luft getragenen Musik von Pink Floyd und den Beatles, die die Saiten der Seele zerrissen, setzte den Ton für die elektrisierte Emotion, die Erstaunen, Begeisterung, Inspiration und noch etwas anderes, Stärkeres, Jenseits des Rationalen, hervorbrachte. Eine Emotion, die durch die allgemeine Begeisterung der Menschen vervielfacht wurde, und daneben – die warme und verlässliche Hand und Schulter eines geliebten Menschen: Augenblicke des Glücks, in denen sich kreative Hingabe, Naturfreundlichkeit und menschliche Liebe vereinen.

In den Ausstellungen und Museen der modernen Kunst sollte man kaum mit einer durchgehenden Panorama-Ansicht unbestreitbaren Könnens rechnen. Die Suche endet unvermeidlich mit einem enttäuschten Gesicht und der Empörung darüber, dass „es doch früher Meister gab“. Meisterschaft ist dort nicht vorhanden und auch nicht vorgesehen. Es gibt jedoch Ausnahmen, wenn ein Platz für die temporäre Ausstellung eines anerkannten Meisters geschaffen wird, um Besucher anzulocken. Im Fall des Straßburger Museums für moderne Kunst war das Werk von Gustave Doré für mich ein solches Lockmittel. Doch nicht Doré selbst hat mich angezogen, obwohl seine Illustrationen und Radierungen, ebenso wie die Gemälde von Kandinsky, keinen Kommentar benötigen. Ich kam wegen der Emotionen, wissend, dass es vor allem negative Emotionen geben würde, da für deren Ausdruck kein echtes Talent erforderlich ist. Hohe Decken und großzügige Räume sind typisch für moderne Museen. Ein emotionales Gemälde, das in der Leinwand zum Leben erwacht, braucht genügend Platz. Die Emotion, die im Rahmen geboren wird, muss sich daraus herausbewegen, mit der Perspektive, auf der weißen Wand ein neues, vom Wahrnehmenden erschaffenes Bild zu kreieren, ohne mit der Emotion des benachbarten Gemäldes zu kollidieren, das noch schweigt, aber auf seinen Moment wartet. Für Museen der modernen Kunst sind auch dunkle Räume mit Projektoren typisch, die in Schleifen schwarz-weiße Kurzfilme zeigen, die mit Abscheu und Hoffnungslosigkeit fesseln. Eine Klasse, in der schräg fallende Strahlen die Schulbänke und die siebenjährigen Jungen in Schuluniform beleuchten. Der Lehrer ist im Bild nicht zu sehen, aber seine Stimme ist zu hören – langsam, etwas unnatürlich, unheimlich. Der in der Vorstellung gezeichnete Monster-Lehrer unterrichtet die siebenjährigen Engel in den Regeln, nach denen in der nicht-engelhaften Welt gelebt wird. Die Jungen haben helle Gesichter, sie schauen auf die Strahlen und aus dem Fenster.

Neben dem Museum fand noch eine weitere Performance statt: eine prächtige, sehr große russischsprachige Frau, etwa fünfundvierzig Jahre alt, in einem luxuriösen grau-blauen Lammfellmantel bis zum Boden. Mit ihr war ein winziger Hund, der in einem blauen Pelzmantel steckte, passend zum Mantel der Besitzerin, sowie ein ganz junges Mädchen, das fror und in einer kurzen Kunstpelzjacke und engen Jeans steckte, die ihre dünnen Beine betonten. Die Mädchen schien sich gerade auf der Stufe der Aneignung nicht-engelhafter Regeln zu befinden, sie wurde gerade darin unterrichtet, wie man das Hündchen ausführt, dessen Pelzmantel offensichtlich mehr wert war als die ganze Kleidung des Mädchens. „Jedem das Seine“ – die ewige Moral unserer Welt. Wieder versuche ich, mich zu überzeugen, vielleicht wird alles für das Mädchen am Ende doch comme il faut…

Die schweren, drückenden Gedanken hatten keinen anderen Ausweg, als sich im leuchtenden Weihnachtsstrudel aufzulösen, sie hatten keinen Platz bei dem festlichen Tisch aus Lichtern der abendlichen „Kleinen Frankreichs“, den Weinen und dem zarten Gänsepaté. Während ich den Spuren von Gutenberg und Goethe folgte, die hier zu Gast waren, dem hier Geborenen Doré, Marcel Marceau, der Marseillaise und dem Pâté de Foie Gras, und die rot-grünen Schürzen mit Hähnchenmustern betrachtete, dachte ich, es wäre nicht schlecht, die ganzen Feiertage hier zu bleiben, aber die Kathedrale unterbrach meine Gedanken – sie wuchs jedes Mal auf meinem Weg, mich aus meinen Fantasien zurückholend.

Ich gab den Wohnungsschlüssel zurück. Es waren noch etwa fünf Stunden bis zum Bus zum Flughafen. Der Plan war: das Gepäck in der Gepäckaufbewahrung abgeben und durch die Stadt schlendern. Der Bahnhof war ganz in der Nähe, meinen Koffer rollte ich denselben Weg entlang wie vor drei Tagen, nur in die andere Richtung. Als ich mich der Ill näherte, sah ich eine Frau in Lumpen, eine Türkin oder Libanesin. Sie saß auf einem Stück Karton – der Tag war kalt und windig – und hielt einen etwa achtjährigen Jungen auf ihren Armen. Sie bat um Almosen. Der Junge döste, mit einer leichten Decke zugedeckt, und zeigte der Straße seine schmutzigen Füße in zerschlissenen Sommerschuhen. Irgendwer wird aus diesem Engel noch werden… wenn er nicht erfriert. Ich versuchte, mich von diesem Weihnachtsbild in der Stadt, in der der Europarat seinen Sitz hat, loszukaufen, indem ich ein paar Euro in die Kartonschachtel warf.

Ich hörte auf, mich weiter zu überzeugen – es langweilte mich. Ich kaufte auf dem Weihnachtsmarkt einen Christbaumschmuck, setzte mich in den warmen Bus, und die Zeit begann sich zu verlangsamen, verwandelte sich in ein Dösen.