
Jede Stadt hat die Fähigkeit, ihre Bewohner zu prägen — Menschen, Katzen, Hunde, Vögel, Pflanzen. Ihre Bewohner sind wie bewegliche Spiegel — trübe oder klar, gerade und oft auch krumm. Sie können ihre Spiegelungen verbergen, verdunkeln und verzerren, aber der aufmerksame Betrachter findet immer Gemeinsamkeiten zwischen den Blumenbeeten und den Häusern, in denen die Bürger und ihre Haustiere leben, den Parks, in denen sie spazieren gehen, den Gehwegen und Brücken, Museen, Kirchen, Universitäten, Bahnhöfen und U-Bahn-Stationen. Eine Stadt unterwirft unweigerlich: Man beginnt, im ihrem eigenen Tempo zu leben, die Linien und Farben zu wiederholen. Die Klarheit ihrer Reflexion in den Bewohnern ist direkt proportional zu der hier verbrachten Zeit.
Es reicht aus, sich einen Tag lang oder für einige Stunden dem Stadtleben zu nähern, damit die Stimme neue Modulationen annimmt, dass sich der Gang und die Haltung ändern, dass man sich in andere Farben kleidet, dass eine grundlose Fröhlichkeit entsteht und bleibt, genährt von heißen Steinen und Wein des barfüßigen Südens, oder eine Traurigkeit fällt herab, ähnlich der Stimmung in nordeuropäischen Städten mit ihren ewig nieselnden kalten Regen.
Wiener spiegeln Vergangenheit und Gegenwart unscharf wider. Wien lebt in seiner eigenen Zeit und blickt immer wieder auf die Jahrhunderte seiner einstigen Macht als Hauptstadt des Habsburgerreiches zurück. Das Leben wird schneller, bricht alte Rekorde, erreicht neue Höhen und erleidet neue Abstürze. Wien nimmt nicht an allen Wettbewerben teil. Sie wiegt sich in ihrem antiken Fiaker und beobachtet mit einem herablassenden Lächeln, wie die moderne Welt Sie überholt. Ihr Haar ist grau, in den Falten ihres schweren Kleides ist der Staub vergangener Herrlichkeit eines einst großen Reiches. Zum beruhigenden Hufgetrappel blättert sie durch ein altes Album mit Stichen, die Türkenbelagerungen, Schlachten mit preußischen Truppen, Bälle, Sommerausflüge mit musikalischem Gefolge, Hochzeitszeremonien mit den Schleppen neuer Länder darstellen. Geduldig und hartnäckig dreht Wien die Zeiger der Uhr zurück und lässt sie ungern über die Marke 1918 hinausgehen — das Jahr des Zusammenbruchs der Monarchie und der Geburt der damals fremden österreichischen Republik.
Moderne Technologien interessieren Wien weit weniger als fast verblasste Gravuren. Alles, was neu ist, ist schwer zu adaptieren und gibt sich oft als das Vergangene aus. Es ist, als ob das Neue erkennt, dass es vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts etwas Handgemachtes, Lebendiges, Authentisch-Wertvolles gibt, und sich deshalb unwohl fühlt angesichts seiner Kantigkeit und Zweckmäßigkeit. Es verehrt die Steine aus der österreichisch-ungarischen Ära, bewahrt den Putz aus der Zeit der osmanischen Eroberungen und erhebt die verschütteten Fundamente der Römer auf ein Podest.
Die Vergangenheit herrscht über die Gegenwart, ist sich ihrer Überlegenheit bewusst, behindert aber das Neue nicht. Wien ist friedlich und vermeidet Feindseligkeiten. Jahrhundertealte Gebäude beugen sich demütig, nehmen ihre Ziegelhüte ab, um ab jetzt Penthäuser aus Beton und Glas zu tragen. Doch selbst in diesen geometrisch ausgefüllten Wohnungen stellen die Besitzer immer wieder getrübte Porzellanfiguren und geschwärzte Silberlöffel mit den Fingerabdrücken von Erzherzögen und Erzherzoginnen aus dem Antiquitätenladen.
Nur wenige Schritte vom Kunsthistorischen Museum entfernt, im Blickfeld einer Reihe berühmter Meister, hat moderne Kunst in den ehemaligen kaiserlichen Stallungen ihren Platz gefunden. Wien hat sie nebeneinander angesiedelt – das ist weise und symbolisch. Denn wo könnte man dem Geruch von Klecksen, Würfeln und verzerrten Körpern besser entkommen als bei Tizian, Van Dyck, Dürer, Rubens, Peter Brueghel dem Älteren, Raffael und den anderen Bewohnern dieser kunsthistorischen Wohngemeinschaft.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Wien auf einem bescheidenen Stück Land eingezwängt. Im engen Ring der Festungsmauern drängten sich der kaiserliche Hof, Paläste, Musiksäle, Menschen, Tiere, große Armut und der dazugehörige Schmutz. Doch die Stadtmauern wurden zerstört, und Wien floss wie das Wasser aus einem gebrochenen Damm in die Weinberge und den Wienerwald, über die Donau und bis zu den Thermen von Baden. Die Stadt wurde aus ihrem engen Korsett befreit, konnte jetzt freier atmen. Das alte Wien wurde in Innere Stadt umbenannt, das neue Wien dehnte sich über die alten Vororte hinaus aus, wurde in Bezirke gegliedert und aus der Vogelperspektive ergibt das ein Bild eines zarten, kunstvollen Musters von Fächer oder Spinnennetzartiger Schönheit. Ein Konglomerat aus dreiundzwanzig Bezirken, das neue Patchwork-Wien, kommt jedes Jahr in die engere Auswahl der lebenswertesten Städte.
Verschiedene Kulturen und Religionen koexistieren friedlich im neuen Wien. Nur an der Stelle der ehemaligen Festungsmauern verkaufen Türken jetzt billige Lebensmittel. Der bronzene Prinz Eugen von Savoyen (1663 – 1736) — einer der Feldherrn des Heldenplatzes, der vor drei Jahrhunderten die Türken aus den österreichischen und ungarischen Gebieten vertrieben hat, ist jetzt gezwungen auf das Dach des Kiosks, unter dem der verschwitzte Nachfahre des Osmanischen Reiches den Teig ausrollt, zu blicken. Aber die Nachkommen derer, die unter den Fahnen Eugens von Savoyen kämpften, sind dem Kebab nicht abgeneigt und verzehren ihn in nicht geringerer Menge als japanisches Sushi oder amerikanische Hamburger.
Im heutigen Wien sind Kundgebungen, Demonstrationen, Massenaufmärsche unter ohrenbetäubendem Trommelwirbel erlaubt. Auch kleinere Aufmärsche sind nicht verboten, sogar die Hauptverkehrswege werden gesperrt, damit fünf Personen mit ihren Forderungen marschieren können.
Die Parks der ehemaligen Adelssitze wechseln sich ab mit den Grünanlagen der Gemeindebauten. Die Bewohner der alten Villen sitzen in Anzügen an Tischen, philosophieren, betreiben Wissenschaft oder sammeln Handtaschen mit schrillen Logos. Die Bewohner der Gemeindewohnungen verkaufen ihnen Brot und Kuchen, wischen den Staub von Klavieren und Bücherregalen. Andere, die bereits einen Anzug haben, leben in Wohnungen mit Blick auf eine Mauer oder das dunkle Fenster des Nachbarn. Je mehr Anzüge man hat, je höher man die Etagen erklimmt, desto näher kommt man dem ersehnten Ziel — einem Penthouse mit Terrasse oder zumindest einem Terrasschen mit Blick auf den eigenen Traum — einen Park mit Villen und Weinbergen.
Die Häuser kämpfen um einen Platz an der Sonne, verdichten sich dort, wo alles längst verdichtet ist, fügen Anbauten hinzu und vervollständigen das fertige Gebäude, behalten aber hartnäckig die Tradition bei, werden nicht höher als fünf oder sechs Reihen von rechteckigen Augen. In Wien gibt es nicht mehr in den Himmel ragende Gebäude als Unkraut in österreichischen Gärten.
Auf den Inseln zwischen den Hauptverkehrsadern sind Basketballplätze eingerichtet, und die Vorschulkinder werden in Höfe geführt, die eher wie graue Brunnenschächte aussehen. Für die niedrigen Häuser ist es eng wie an einem Strand in Cannes, aber die Wolken sind frei. Die Besitzer hängen Balkone an die Fenster, die seit hundert Jahren keinen Sonnenstrahl mehr gesehen haben, oder bauen Terrassen auf den Dächern zwischen den Schornsteinen, um den Himmel zu sehen. Keramikkästen mit Veilchen, Kübel mit Palmen und Rauch von Grillgeräten trennen sie von ihren Nachbarn.
Rechte Winkel und gerade Wände verlieren gegenüber Rundungen, abgeschrägten Decken, Wendeltreppen, Vorsprüngen, Stufen und Türmchen. Das Leben in Rechtecken und Quadraten, zirka zwei Meter fünfzig hoch, mag billig sein, aber für manche Wiener langweilig. Die Wiener zahlen zu viel für Lofts, für ihren Garten mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem Hortensienbusch. Sie zahlen extra für rechteckige Gaubenfenster mit zwei winzigen Doppeltüren oder runde Fenster, wie bei einem U-Boot. Warum…? Um aus dem Fenster zu schauen und sehen, wie der Wind die Blütenblätter einer Kirschblüte wegbläst oder wie Regentropfen einen Regenbogen auf das Glas spritzen.
Das neue Wien wird durch das alte Wien genährt und zusammengehalten. Und nur die Bewohner der verwinkelten Gassen in der Nähe der Weinberge — der hellste Fleck, definiert als Nummer neunzehn — kümmern sich nicht um das alte Wien. Sie nähren sich vom Glockengeläut kleiner Kirchen, von Gesprächen an Holztischen in den Höfen gedrungener Häuser mit bemalten Wänden und Fensterläden, von hausgemachten Würsten, jungem Wein und dem nahen Wiener Wald. Das alte Wien gießt den Samen der Einwanderer und bereitet geduldig den Boden, auf dem die Wiener in einer Generation oder mehr sicher aufwachsen werden.
Das äußere republikanische Wien ist dominant auf der Landkarte, aber nicht in der Realität. Die Monarchie ohne Monarch — das innere, ehemalige Wien — ist nicht umgezogen, es ist ihrem Stück Land treu geblieben. Seine Diagonale durchmißt man zu Fuß in fünfzehn Minuten, aber die Spirale des ehemaligen Wiens ist unermesslich. Wie aus dem Hut eines Zauberers kann man endlose verblichene Bänder und Taschentücher aus zerbröckelnden Brokat herausziehen. Man kann sich in den Straßen verirren, durch die man schon Hundertmal gegangen ist; man kann nach Norden gehen und im Osten herauskommen. Wenn das Licht wechselt oder man den Blickwinkel ändert, kann man ein Juweliergeschäft mit einer Türklingel und einer krausen alten Frau darin finden, die Halbedelsteinperlen auffädelt, wo es vorher weder ein Geschäft noch die alte Frau gegeben hat…
Die äußere Stadt ist derzeit durch Autos, die im Uhrzeigersinn fahren, von der inneren Stadt getrennt. Anstelle der Burgmauern wurde eine breite Straße gebaut, die den freien Verkehr von Menschen und neuen Ideen symbolisieren sollte. Durch die abgerissene Mauer strömten die Bürger ein, aber die Geister Wiens haben die Stadt nicht verlassen. Sie leben in Kirchen und Kerkern, hinter Fenstern mit schweren Vorhängen; vor Weihnachten trinken sie Glühwein auf den Plätzen, flanieren durch die Straßen und mischen sich unter die Wiener. Und manchmal ist es schwer zu sagen, ob es sich um einen Menschen oder einen materialisierten Geist handelt, der in einem Café mit einem Löffel klimpert, Zucker umrührt oder elegant Perlen zurechtrückt.
Die Möglichkeit, hier auf die Schatten der Vergangenheit zu stoßen, ist größer als die Chance, ihnen nicht zu begegnen. Auf den dunklen, verwinkelten, modrigen und verworrenen mittelalterlichen Straßen erscheinen am späten Abend oder am frühen Morgen die Geister von Fleisch- und Fischhändlern in unreinen Schürzen, rotgesichtigen, mit Mehl bestäubten Bäckern, Jesuiten, die verbotene Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrennen, und Leichensammlern mit Karren voller lebloser Pestopfer. In der Hofburg flackern draußen die Monokel und Perücken aus der Blütezeit der Musik, der Bälle, des Erfolgs der „Zauberflöte“ und des Niedergangs von Salieri. Die Geister wachen über die Vergangenheit des alten Wiens, polieren das knarrende, abgenutzte Parkett, bessern die Risse in der verblichenen Vergoldung aus, schütteln den verblassten Samt ab und treten nicht über die Grenze der ehemaligen Festungsmauern hinaus. Sie sind nicht im republikanischen Wien, nicht im Belvedere, nicht in Schönbrunn. Es kann vorkommen, dass ein Geist in der Abenddämmerung den höheren Turm des Stephansdoms erreicht, angelockt von den Lichtern des alten Riesenrads, und dann missachtet er das Verbot und fliegt über den magischen Kreis. Der Wagen mit den Menschen darauf schwingt in der Höhe, als ob der Wind weht — aber das ist der Geist der ihn mit seinem Flügel berührt.
Es gibt Städte, die schlicht gebaut sind, wie Kopenhagen, und dann gibt es Wien, geformt aus Kuppeln, Pilastern, Säulen, Atlanten, Karyatiden, Fratzenköpfen, Hermen, Notenschlüsseln und Halbtönen. Es gibt Bewohner, in denen sich der Stuck der Wände spiegelt, und es gibt Wiener, in denen sich eine Vielzahl von Formen und Klängen widerspiegeln. In den Straßen von Wien schlendern zerzauste Halbtöne die Promenade entlang; die gemächlich schlendernden Moll-Typen spazieren mit hochgeschlagenen Kragen und Kinn; die verblichenen Karyatiden streifen durch die Geschäfte; die Porträts mit riesigen Perlen, die Museen und vergoldete Rahmen verlassen haben, trinken mit kleinen Schlucken Kaffee; Atlanten versteigern bröckelnde Stühle und von Generationen von Baumwanzen vernarbte Truhen; an Marmortischen rauchen Hermen und blättern in Zeitungen auf Holzrahmen — frisch, aber bereits vergilbt; Fratzenköpfe suchen an den Decken von Cafés nach Inspiration und schreiben, kalten Kaffee schlürfend, in Notizbüchern mit zerrissenen Blättern die Dramen, die Melpomena ihnen in ihrer verzweifelten, unverständlichen Handschrift zugeflüstert hat.
Wien ist erhaben, und wenn man nicht widersteht, bedeutet die Unterwerfung unter diese Stadt, eine Kuppel oder zumindest ein Fries zu werden, sich in einen Violinschlüssel oder zumindest in einen Halbton zu verwandeln, seine Gewohnheiten zu übernehmen, die Musik wirklich zu lieben und mit aufrichtigem Interesse Ausstellungen zu besuchen, die Verlagerung in eine Zeit der Vergoldung und des purpuren Samtes. Irgendwie natürlich, der allgemeinen Stimmung gehorchend, um in das Tempo des Adagios zu kommen. Nicht hetzen — sondern mithalten, nicht drängeln — sondern voraus sein.